In der bundesdeutschen Geschichte wurde wohl über keinen Begriff so kontrovers gestritten wie über den der Gerechtigkeit. Und das kann auch nicht verwundern, denn was für den einen gerecht ist, erscheint für viele andere als höchst ungerecht. Dieses lässt sich trefflich an der oftmals als ungerecht empfundenen Höhe der Steuern und Abgaben verdeutlichen. Trotz dieser Lasten, die eigentlich für die gleichmäßigere Verteilung des Wohlstandes sorgen sollen, vergrößert sich – so zeigen es einige Statistiken – der Wohlfahrtsabstand zwischen den einzelnen Gesellschaftsschichten. Und hier haben wir schon die Wurzel vieler im Nachhinein als heuchlerisch empfundener Aussagen gefunden. Statistiken lassen sich – das wusste nicht erst Churchill – trefflich durch die Art der Fragestellung oder die Einbeziehung/Weglassung bestimmter Variablen manipulieren. Verlässt man sich somit verstärkt allein auf Statistiken, wie es in der modernen Volkswirtschaftslehre neuerdings üblich ist, wird man leicht in die Irre geführt.
Es gibt nicht DIE Gerechtigkeit
Um das Wesen der Gerechtigkeit zu verstehen, ist zunächst folgende Feststellung wichtig: Es gibt nicht DIE Gerechtigkeit. Es sind jedoch zwei grundsätzliche Sichtweisen auf gerechtes Handeln möglich – die egalitaristische und die non-egalitaristische. Während die egalitaristische Sichtweise relational bestimmt, was gerecht ist (hat der reichste Mensch im Lande mehr Geld, brauche ich auch mehr) – beziffert die non-egalitaristische Variante die Dinge als gerecht, die ausreichen, um meine Bedürfnisse zu erfüllen (gerecht ist, wenn ich so viel habe, dass es mir gutgeht). Derik Parfit führt zur Verdeutlichung des Non-Egalitarismus folgendes Beispiel an: „In großer Höhe fällt Menschen das Atmen schwerer. Ist dies so, weil sie sich an einem höher gelegenen Ort befinden als andere? In einem gewissen Sinne ja. Allerdings würde ihnen das Atmen genauso schwer fallen, wenn es weiter unten keine anderen Menschen gäbe“.
Ist der Non-Egalitarismus gerechter?
Bei der non-egalitaristischen Variante der Gerechtigkeit findet demnach kein übermäßiger Ausgleich statt, außer in Notsituationen. Kann man also sagen, dass man bei der dieser Form der Gerechtigkeit unter seinen Möglichkeiten bleibt? Oder kann man sagen, dass bei der egalitaristischen Variante der Gerechtigkeit die genügsamen Charaktere diskriminiert werden? Im Grunde haben beide Varianten der Gerechtigkeit etwas für sich. Die non-egalitaristische Gerechtigkeit darf nur nicht so weit geführt werden, dass andere Menschen derart reich werden, dass sie andere despotisch beherrschen können.
Philosophen und Ökonomen beherrschen die Welt
John Rawls, einer der größten Philosophen des 20. Jahrhunderts, nimmt eine Mittelposition zwischen den Gerechtigkeitsvarianten ein. Seine Forderungen bestehen darin, dass jeder Mensch die gleichen Grundfreiheiten besitzen soll, dass niemand aufgrund von Dingen, für die man selbst nichts kann, schlechter gestellt sein darf, und dass stets der Mensch das Ziel allen Handelns sein soll und niemals Mittel zum Zweck. Die Rahmenbedingungen müssen zudem so gestrickt sein, dass es jederzeit möglich ist, in der Gesellschaftshierarchie durch eigene Anstrengungen aufzusteigen. Wird dieser Weg durch festgefügte Eliten versperrt, läuft etwas schief mit der Gerechtigkeit.
Am Schluss bleibt somit festzuhalten, dass kurzfristige Wahlversprechen keine Hilfe bei der Behebung von Ungerechtigkeit sind – benachteiligt fühlt man sich vielleicht ja schnell. Auf die Strukturen kommt es an.
Vertiefen Sie die Diskussion weiter mit meinem Buch „Soziale Gerechtigkeit in Deutschland – Eine historische Analyse des kontraktualistischen Gerechtigkeitsverständnisses nach John Rawls in der deutschen Wissenschaft und Politik“.