Der so genannte „Dialog im Dunkeln“ ist eine Veranstaltung, wie sie in unserer Zeit in vielen deutschen Städten zu erleben ist.
Hierbei werden visuell nicht eingeschränkte Personen in einen vollkommen dunklen Raum geführt, um ihnen zu verdeutlichen, wie sich ein blinder Mensch fühlen muss. Auf dem ersten Blick ist dies eine gut gemeinte Sache, merkt man doch, wie sehr man auf das Augenlicht angewiesen ist und wie selbstverständlich man diese Gabe Tag für Tag in den unterschiedlichsten Situationen gebraucht. Auf den zweiten Blick ist eine solche Einrichtung aber meiner Ansicht nach kontraproduktiv.
- Bei vielen Menschen führt sie zu der Annahme, sie wüssten nach einer Stunde Dunkelheit wie es ist, blind zu sein. So kommt es vor, dass Menschen, nachdem sie den „Dialog im Dunkeln“ verlassen haben, meinen, blinden Menschen Ratschläge geben zu können, wie sie ihr Leben optimieren sollten. Eine Stunde ohne Licht soll also ausreichen, um Menschen, die bereits seit Jahren oder Jahrzehnten ohne Augenlicht auskommen müssen, lebenspraktische Tipps zu geben?!
Der „Dialog im Dunkeln“ verzerrt die Wahrnehmung
- Weiterhin fühlen sich visuell nicht eingeschränkte Personen in der plötzlichen Dunkelheit hilflos – und übertragen diese Gefühle der Hilflosigkeit auf die blinden Menschen – was diese aber in der Regel nicht zwangsläufig sein müssen! Das würde dann im Alltag zu nicht gerechtfertigtem Mitleid führen.
So oder so: Der „Dialog im Dunkeln“ verzerrt auf alle Fälle die Wahrnehmung der blinden Menschen durch die Umwelt. Das kann nicht das Ziel sein!
- Genausowenig kann es richtig sein, dass blinde Menschen im „Dialog im Dunkeln“ zeigen, wie gut sie ohne Licht zurechtkommen. Dass sie endlich mal den Sehenden behilflich sein können statt andersrum – ist eine solche Vorgehensweise nicht demütigend?Sollte es nicht eine Selbstverständlichkeit sein, dass jeder Mensch, ob nun in irgendeiner Weise eingeschränkt oder nicht, anderen, die sich in einer Situation nicht zurechtfinden, behilflich ist?
- Der Aufenthalt in der völligen Dunkelheit vermittelt den Sehenden zudem, dass die Umwelt von visuell eingeschränkten Personen nur als dunkel, schwarz, farblos wahrgenommen wird. Das muss nicht notwendigerweise stimmen. Die Welt kann durchaus bunt sein – auch das verfälscht der „Dialog im Dunkeln“.
Wichtiger für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wäre es, die visuell eingeschränkte und nicht eingeschränkte Öffentlichkeit über die technischen Möglichkeiten aufzuklären, die blinde Menschen heutzutage besitzen, um ihr Leben konstruktiv zu gestalten. Eine Integration in die herkömmliche Arbeitswelt, ob nun als Dienstleister oder Kollege/Kollegin, würde zu einer vermehrten Beschäftigung mit visuell eingeschränkten Personen führen, mit denen man konstruktiv und effizient zusammenarbeitet. Auf einer kollegialen Ebene lassen sich viele Missverständnisse und Vorbehalte sehr viel besser ausräumen als durch den kurzen Aufenthalt in einer Dunkelkammer.
Dieser Text ist in ähnlicher Form auch hier nachzulesen.
Ihr Dr. Carsten Dethlefs