Der Preisträger ist ein Unternehmer , der trotz oder vielleicht wegen dreier Schlaganfälle sehr stark für Inklusion in Mönchengladbach kämpft: Albert Sturm.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Mein Name ist Carsten Dethlefs. Ich komme als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die politische Bildung von der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Ich danke Herrn Knor und dem VdK-Mönchengladbach dafür, dass ich heute hier als Nordlicht, nur einen Tag nach Karnevalsbeginn, zu einem so wichtigen Thema reden darf. Diese Rede benennt im Grunde nur Selbstverständlichkeiten, und deren Inhalt sollte seit Langem überflüssig sein. Es geht um politische Teilhabe von Menschen mit Behinderung.
Ich spreche zwar heute hier als Repräsentant der Konrad-Adenauer-Stiftung, aber auch als selbst Betroffener. Ich bin promovierter Diplom-Kaufmann, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung und seit meinem vierten Lebensjahr an vollständig erblindet. Ich möchte auch genau diese Reihenfolge einhalten, weil ich mich nicht über mein Handicap definiere. Inklusion ist nämlich erst dann vollständig erreicht, wenn das eigene Handicap zur Nebensache wird. Um das eigene Handicap jedoch zur Nebensache werden lassen zu können, müssen aber bestimmte Rahmenbedingungen erfüllt sein.
Dieses gilt insbesondere für die politische Teilhabe.
Es darf in einer freiheitlichen Demokratie wie der unseren keine Staatsbürger erster und zweiter Klasse geben. Darum sind einige Dinge in Angriff zu nehmen. Diese betreffen vornehmlich die Barrierefreiheit, die vorherrschen muss, um Grundrechte wie das aktive und passive Wahlrecht, sowie die Möglichkeit, sich zu informieren – sprich die politische Teilhabe – ausüben zu können.
Hierzu hat die Konrad-Adenauer-Stiftung auch vor kurzem eine Handreichung herausgegeben, die beschreibt, wie Menschen mit Behinderung sich einmischen und ihre Interessen, die oftmals über das eigene Handicap hinausgehen, nach vorne bringen können.
In Artikel 29 garantiert die UN-Behindertenrechtskonvention behinderten Menschen nämlich die politischen Rechte und die Möglichkeit, diese gleichberechtigt mit anderen beanspruchen zu können. Gleichzeitig beschreibt die Konvention die Pflicht der Vertragsstaaten sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können. Diese Regelung in Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention bezieht sich auf Artikel 25 des UN-Zivilpakts UN-Zivilpakt: Recht auf politische Teilhabe und Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Genauer gesagt legt Artikel 29 hinsichtlich des aktiven Wahlrechts fest, dass Wahlverfahren, Wahleinrichtungen und Wahlmaterialien geeignet, zugänglich sowie leicht zu verstehen und zu handhaben sein müssen. Bei der Stimmabgabe sollen die Vertragsstaaten erlauben, dass sich Menschen mit Behinderungen im Bedarfsfall auf ihren Wunsch bei der Stimmabgabe durch eine Person ihrer eigenen Wahl unterstützen lassen. Das passive Wahlrecht soll gegebenenfalls durch die Erleichterung der Nutzung unterstützender und neuer Technologien für die Wahrnehmung eines Amtes geschützt sein.
Die Vertragsstaaten sollen sich, so verpflichtet sie Artikel 29 Buchstabe b der UN-Behindertenrechtskonvention, aktiv für ein Umfeld einsetzen, in dem Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen an der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten mitwirken können und sie sollen die Mitwirkung von Menschen mit Behinderungen an öffentlichen Angelegenheiten begünstigen.
Zu der Mitwirkung zählt Artikel 29 Buchstabe b der Konvention auch die Beteiligung in Nichtregierungsorganisationen und in Parteien sowie die Bildung von und den Beitritt zu Organisationen von Menschen mit Behinderungen.
Die Vorkehrungen sind oftmals nicht kompliziert. Eine größere Wahlkabine, in die man notfalls auch mit einem Elektrorollstuhl hineinpasst, Wahlprogramme in Blindenschrift, in Gebärdensprachvideos oder als aufgesprochene Akustikangebote sind nicht schwer umsetzbar. Die CDU-Berlin hat es mit ihrem Wahlwerbespot vorgemacht, der sogar im Kino Auszüge des Walprogramms akustisch/visuell dargeboten hat.
Also, keine Angst vor Barrierefreiheit, keine Angst vor Inklusion.
Ich weiß, dass die LAG Selbsthilfe NRW vor kurzem eine Studie in Kooperation mit der Universität Siegen herausgebracht hat, die den Ist-Zustand der politischen Teilhabe von Menschen mit Behinderung in NRW beschreibt. Hiernach gibt es noch Vieles zu tun.
Natürlich gibt es auch Personen, die sich von der mangelnden Barrierefreiheit und den fehlenden Partizipationsmöglichkeiten nicht abhalten lassen, wie unser heutiger Preisträger beweist. Gleichwohl verstehe ich, wenn man es satt hat, immer nur als Bittsteller für barrierefreie Möglichkeiten der Teilhabe aufzutreten. Die Politik in Land und Kommunen sollte vielmehr erkennen, dass Teilhabe und insbesondere politische Teilhabe keinen einseitigen Nutzen stiftet, sondern jedermann hilft. Bundesweit gibt es etwa zehn Millionen Menschen mit einer Behinderung, und es werden wegen der Altersentwicklung sicher noch mehr. Ich frage mich, wie reich muss unser Land sein, wenn wir es uns leisten können, auf dieses Potential zu verzichten? Wie reich und wie stark könnte unser Land sein, wenn wir dieses Potential durch nur wenige, oftmals kostengünstige Maßnahmen heben?
In einigen Regionen Deutschlands funktioniert das schon ganz gut, in anderen weniger. Der Bericht der LAG-Selbsthilfe in NRW weist aber hier auf wissenschaftlicher Basis die dringenden Handlungsfelder auf. An den Mängeln kann das Konnexitätsprinzip auch nicht allein Schuld sein.
Gesetze gibt es schon genug. Jetzt ist die Zeit des Handelns gekommen.
Doch kommen wir zurück auf den Kern, auf die politische Teilhabe. In einer freiheitlichen Demokratie darf niemand wegen Dingen, die er oder sie nicht verschuldet, von Grundrechten wie der Ausübung von Bürgerrechten bei Wahlen – sei es nun als passiver oder aktiver Wahlbürger – ausgeschlossen werden.
Menschen mit Behinderung sind nämlich keine Objekte des Mitleids, sondern Gestaltungskräfte wie jeder andere Staatsbürger auch. Ich weiß, dass manche Forderungen in die Richtung gehen, Menschen mit Behinderung fest in Parlamente zu installieren und sie mit einem Veto-Recht bei behindertenpolitischen Fragestellungen auszustatten. Ich hoffe, dass es so weit gar nicht erst kommen muss. Was hingegen wichtig wäre, ist nach meiner Einschätzung eine freiwillig festzulegende Mindestanzahl von Menschen mit Behinderung, die auf den Listen der einzelnen Parteien auf allen Ebenen stehen. So werden Menschen mit Behinderung sofort in den politischen Prozess eingebunden und können ihre Fähigkeiten auch auf andere Themenfelder erstrecken als nur die Behindertenpolitik. Die Kommunen sollten zudem die Barrierefreiheit öffentlicher Einrichtungen für Menschen mit Behinderung in ihren Satzungen festschreiben. Barrierefreiheit und Inklusion dürfen zwar in ihrer Ausgestaltung von wechselnden politischen Mehrheiten diskutiert werden. Das „Ob“ sollte allerdings nicht mehr diskutabel sein. Welchen Gewinn könnten Kommunen davontragen, wenn sie beispielsweise auf den barrierefreien Tourismus setzten? Welchen Vorteil könnten Gemeinden erlangen, wenn sie jedem Besucher mit Handicap schon vorab im Internet einen Leitfaden an die Hand geben, wo es barrierefreie Angebote innerhalb der eigenen Stadtgrenzen gibt? Forderungen nach nicht gewählten Politikern mit Behinderung werden dann wohl leiser werden. Natürlich wird man die Barrierefreiheit nicht von heute auf morgen vollständig verwirklichen. Aber wichtig ist, dass man sich auf den Weg macht.
Genauso hat sich die Konrad-Adenauer-Stiftung jetzt auf den Weg gemacht, ihr Seminarprogramm der politischen Bildung möglichst barrierearm zu gestalten und Menschen mit Behinderung die Möglichkeit einzuräumen, am reichhaltigen Bildungsschatz der Stiftung teilzuhaben. Das Informationsdefizit kann hierdurch auf bestimmten Gebieten zumindest schon einmal verringert werden.
Vergessen werden darf in diesem Kontext natürlich nicht, dass Inklusion keine Einbahnstraße ist. Statt den schwarzen Peter zwischen Politik und Behindertenverbänden ständig hin- und herzuschieben, ist es wichtig, einen fruchtbaren Dialog auf Augenhöhe zu führen, bei dem der eine dem Anderen auch tatsächlich zuhört. Wenn Politik, Wirtschaft und Betroffene begreifen, dass Barrierefreiheit nicht nur einer Seite hilft, dann ist der gordische Knoten vermutlich schon durchschlagen.
Dass wir heute noch über die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderung sprechen müssen, ist eigentlich schon fast peinlich, wenn man sich überlegt, dass es bereits im 19. Jahrhundert große Verantwortung tragende Politiker mit Behinderung gegeben hat. So war der einstige Senator von Oklahoma Thomas Pryor Gore blind. Der einstige britische König George XI, uns allen bekannt aus dem Film „The king’s speech“ folgte im 20. Jahrhundert, und er stotterte. Nicht zu vergessen ist auch der einstige Innenminister unter Tony Blair, David Blunchet, der blind ist. Deutschland hat hier einigen Nachholbedarf. Natürlich muss es in erster Linie um die persönliche Eignung gehen, aber ein Handicap muss im Alltag und im öffentlichen Leben sehr viel mehr zur Selbstverständlichkeit werden.
Ich will jetzt nicht in die oft zitierte Floskel „Ich habe einen Traum“ verfallen. Auch Visionen habe ich nicht und muss entsprechend nicht zum Arzt. Ich fordere an dieser Stelle nur eindringlich, das Thema „Behinderung“ jetzt konstruktiv und ohne jedes Mitleid aufzugreifen, um es schnell wieder zur Nebensache werden zu lassen. Niemand ist gern behindert und muss es auch nicht sein, wenn die entsprechenden Rahmenbedingungen stimmen. Die zwischenmenschliche Hilfe ist sicher das wichtigste. Die eigenständige Regie des eigenen Lebens ist aber mindestens genauso hoch einzuschätzen, und diese Regie erfordert eine barrierefreie Umwelt. Nochmal, geträumt wurde genug, jetzt wollen wir es anpacken!
Presse-Artikel finden Sie hier:
RP Online vom 15. November 2016
MG-HEUTE Mönchengladbacher Zeitung vom 15. November 2016
BürgerZeitung Mönchengladbach und Umgebung vom 14. November 2016